Interview zu Analyseverfahren von Störungsereignissen und deren Management im autonomen On-Demand-Betrieb
ahoi Projekt News | 07.01.2025
Das Thema Sicherheit ist bei der Entwicklung von autonomen On-Demand-Shuttles essenziell. Potenzielle Fahrgäste wünschen sich, dass bereits zum Start eines autonomen Betriebes möglichst alle Störungen und Gefahrenszenarien identifiziert und passende Lösungen zur Vermeidung und Bewältigung dieser gefunden werden konnten. Im Projekt ahoi erarbeitet die Arbeitsgruppe Leitstelle derzeit eine ausführliche Analyse von möglichen Störungsereignissen im autonomen On-Demand-Betrieb und einen Leitfaden für deren Management. Konrad Polster (vhh.mobility) und Rico Auerswald (Fraunhofer IVI) gaben uns einen Einblick in ihre Arbeit.
Voraussetzungen für einen optimalen Betriebsablauf
Herr Auerswald, Herr Polster, wie sieht der optimale Ablauf eines autonomen On-Demand-Betriebes aus?
Rico Auerswald: Optimal läuft der Betrieb, wenn die technischen Aufsichten, die die selbstfahrenden Fahrzeuge aus der Leitstelle heraus überwachen, möglichst wenig eingreifen müssen. Dann liegen keine Störungen vor, auf die eine technische Aufsicht reagieren müsste. Ganz ohne Interaktion mit Personal wird es aber auch im Optimalfall nicht gehen können, was aber auch so vorgesehen ist. Beispielsweise wird es notwendig sein, täglich vor jeder Abfahrt die selbstfahrenden Fahrzeuge auf Funktionstüchtigkeit zu überprüfen.
Konrad Polster: Wir haben den Betriebstag in drei Phasen eingeteilt. Aufrüsten, Fahrbetrieb und Abrüsten. Wenn diese drei Phasen ohne Störungsereignisse ablaufen und alle Hand in Hand arbeiten, kann man von einem optimalen Ablauf sprechen.
Was sind die Herausforderungen im Störungsfall bei einer autonomen im Gegensatz zu einer manuellen Flotte?
Rico Auerswald: Eine Kernherausforderung besteht darin, dass Störungen, sofern sie nicht im Vorfeld erkannt und aufgelöst werden können, fast immer zu einer Betriebsunterbrechung bei einzelnen, im Zweifel auch bei mehreren Fahrzeugen führen können. Störungsereignisse können auch bei konventionell gesteuerten Fahrzeugen auftreten. Hier steht uns jedoch Fahrpersonal direkt vor Ort zur Verfügung, das schnell und flexibel reagieren kann. Lässt sich bei autonomen Fahrzeugen die Störung nicht aus der Ferne auflösen, muss erst Personal zum Fahrzeug gelangen, um vor Ort wirken zu können. Daher ist es bei autonomen Fahrzeugen enorm wichtig, mögliche Störungen so früh wie möglich zu erkennen – idealerweise noch bevor ein selbstfahrendes Fahrzeug davon betroffen ist.
Konrad Polster: Die größte Herausforderung ist meiner Meinung nach, dass die Fahrer*innen nicht mehr da sind, um bei Störungen reagieren und helfen zu können. Besonders wenn Störungen im Betrieb auftreten, ist die Kommunikation zu den Fahrgästen und Betroffenen sowie eine schnelle Hilfe vor Ort sehr wichtig. Es kommen auch neue mögliche Störungen hinzu. Daher ist es wichtig, alle Störungsereignisse zu erkennen, um die richtigen Maßnahmen einleiten zu können.
Konrad Polster (vhh.mobility) vor einem Prototypen eines autonomen On-Demand-Shuttles.
Frühzeitige Analyse von Störungen für ein effektives Störungsmanagement
Warum ist es wichtig, die Störungsereignisse bereits im Vorfeld der Inbetriebnahme zu identifizieren?
Rico Auerswald: Alle Störungssituationen, die wir bereits im Vorfeld identifiziert haben, können beim Hersteller der selbstfahrenden Fahrzeuge in der Systemauslegung bereits berücksichtigt werden (falls nicht bereits geschehen). Zudem können wir aus der Vorabanalyse von Störungsereignissen auch Anforderungen und Entwicklungsgegenstände für weitere Systeme ableiten, die an die selbstfahrenden Fahrzeuge und technischen Aufsichten angebunden sind. Beispiel hierfür ist das Dispositionssystem oder das Betriebshofmanagement. Funktionserweiterungen an diesen Systemen zur Vermeidung oder zum Management von Störungsereignissen sind mit Entwicklungsaufwänden verbunden, die Zeit kosten. Je früher wir mit den Entwicklungen beginnen können, umso eher können wir diese Erweiterungen im weiteren Projektverlauf mit testen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass ungeachtet aller Vorabüberlegungen auch während der Erprobungsphase weitere Störungsereignisse auftreten werden. Dann können wir jedoch auf bestehende Methodiken für das Störungsmanagement zurückgreifen und testen, welche Maßnahmen auch für neue Störungen wirksam sind.
Wie gehen Sie bei der Identifikation von möglichen Störereignissen vor?
Konrad Polster: Zunächst haben wir mit verschiedensten Personen aus unterschiedlichen Fachbereichen den idealen Betriebsablauf, den sogenannten „Happy Path“ skizziert. Danach haben wir alle möglichen und bekannten Störungen betrachtet. Diese haben wir dann priorisiert und auch in Bezug auf die Schwere des Eingriffs in den Betriebsablauf bewertet. Danach haben wir Ablaufdiagramme erstellt und Vorgänge entwickelt, um diese Störungen zu beheben und die passende Kommunikation mit allen Beteiligten und Fahrgästen zu etablieren. Aus diesen Abläufen werden dann Blöcke von Vorgängen oder Aufgaben, die sich wiederholen bzw. auch bei weiteren Störungsereignissen notwendig sind, generiert. Diese Ablaufdiagramme sowie die Blöcke werden wir in Datenflussdiagramme überführen und so notwendige Datenflüsse und Tools identifizieren. Aus diesen können wir dann auch die Schnittstellen definieren und Spezifikationen ableiten. Um die Ereignisse zu verifizieren, vergleichen wir diese mit veröffentlichten Referenzprojekten und tauschen uns mit diesen aus.
Darstellung eines vereinfachten idealen Betriebstages mit einem autonomen On-Demand-Shuttle.
Vielfältige Störereignisse – von vergessenen Objekten bis hin zu medizinischen Notfällen
Welche Arten von Störereignissen gibt es?
Rico Auerswald: Störungen können in verschiedene Arten klassifiziert werden. Im Projekt ahoi haben wir beispielsweise Störungen nach der hauptverantwortlichen Rolle für eine Störung klassifiziert. Jedoch gibt es darüber hinaus noch viele weitere Arten und Einordnungsmöglichkeiten von Störungen. Ich glaube, die Störungsarten, an die die meisten im Kontext von selbstfahrenden Fahrzeugen denken, sind technische Störungen, Ereignisse in der Fahrzeugumgebung oder Ereignisse im Fahrgastinnenraum.
Können Sie Beispiele nennen?
Konrad Polster: Beispiele für solche Störungsereignisse sind ein vergessenes Objekt im Innenraum, Störungen im Betriebssystem, eine fehlerhafte Abfahrtkontrolle, ein medizinischer Notfall während der Fahrt, Verbindungsabbrüche, ein technischer Defekt am Fahrzeug, Belästigung oder Vandalismus durch einen Fahrgast, ein größeres Hindernis auf der Fahrbahn oder ein Unfall, in den das Fahrzeug verwickelt ist. Genauso betrachten wir im ersten Blick kleinere Störungen wie ein nicht verfügbares mobiles Endgerät, welches für die technischen Prüfungen in der Werkstatt benötigt wird.
Wie viele Störereignisse planen Sie zu erarbeiten? Kann man sich auf „alles“ vorbereiten?
Rico Auerswald: Wir haben uns aktuell insbesondere auf jene Störungsereignisse konzentriert, die entweder große Auswirkungen auf den Betrieb bzw. die Betriebszeit haben könnten oder voraussichtlich eine besonders hohe Kritikalität aufweisen. Die Analyse und Untersuchung der Störungsereignisse ist jedoch sehr aufwändig. Generell versuchen wir kontinuierlich eine maximal mögliche Menge an Störungsereignissen zu erfassen. Insbesondere werden hier die praktischen Erfahrungen während der Erprobung weitere wichtige Beiträge liefern. Auf alle möglichen Eventualitäten werden wir uns aber nicht vorbereiten können. Hier müssen wir in Zukunft Verfahren entwickeln, die neuartige Störungen inkl. aller Rand- und Rahmenbedingungen aufzeichnen und eine nachträgliche Analyse, Klassifikation und Ableitung geeigneter Maßnahmen ermöglichen können.
Rico Auerswald (Fraunhofer IVI) auf der mobility move 2024. (Foto: VDV / Markus Bollen)
Entwicklung und Optimierung des Störungsmanagements
Wenn Sie die Störereignisse identifiziert haben, was passiert im nächsten Schritt? Wie wird eine Lösung erarbeitet?
Rico Auerswald: Vor der Analyse der Störungsereignisse haben wir ein Rollenmodell für die verschiedenen betriebsrelevanten Akteure im Projekt ahoi entwickelt. Anhand dessen haben wir zunächst analysiert, bei welcher Rolle oder welchem System die Störung erstmalig aufschlägt bzw. wer die Störung erkennen muss. Darüber hinaus hat jede Rolle bzw. ihre zugewiesenen Systeme einen definierten Verantwortungs- und Handlungsrahmen. Auf dieser Grundlage wurden Prozesse und Meldeketten entwickelt und analysiert, welche voraussichtlich den besten Lösungsansatz darstellen. Natürlich müssen sich diese Lösungsansätze auch noch in der Praxis bewähren, weshalb sie u. a. auch Bestandteil der Erprobungsphase sein werden. Wird eine Eignung im Rahmen von Erprobungen aufgezeigt, kann der ausgearbeitete Lösungsansatz im Hinblick auf den zukünftigen Regelbetrieb bereits den jeweilig beteiligten Rollen zur Seite gestellt werden. Falls nicht, werden aus den Testergebnissen heraus die Lösungsansätze weiterentwickelt und erneut verprobt.
Konrad Polster: Wie schon beschrieben, leiten wir sogenannte Ablauf- und Datendiagramme ab und entwickeln daraus Maßnahmen, Tools, Spezifikationen, Anweisungen und Prozesse. Zusätzlich werden Handlungsanweisungen bzw. Prozesse für die verantwortlichen Rollen entstehen. Diese werden dann in ein sogenanntes Störungsmanagement überführt, wo dann klar beschrieben ist, was in der jeweiligen Situation zu tun ist.
Wie wollen Sie in Zukunft unvorhergesehene Störungen identifizieren, die nur sehr selten in Erscheinung treten und wie gehen Sie dann damit um?
Konrad Polster: Ziel ist es, alle Systeme ausreichend zu testen, um so auch die seltenen und unbekannten Störungsereignisse identifizieren zu können. Wir werden mit der Flotte erst in den Realbetrieb (mit Fahrgästen) gehen, wenn wir sicher sind, dass wir für alle uns bekannten Störungsereignisse Maßnahmen und Prozesse zur jeweiligen Lösung erarbeitet haben und diese auch verifiziert und validiert sind. Genauso wichtig ist es, dass wir in der technischen Aufsicht oder Fahrzeug-Disposition erfahrenes Personal einsetzen, um mit unvorhergesehenen Störungen richtig umgehen zu können.
Können wir aus diesen Arbeiten auch etwas für andere Bediengebiete lernen?
Konrad Polster: Auf jeden Fall. Darum sind wir auch mit den anderen Projekten intensiv im Austausch. Erkenntnisse, die anderswo schon gemacht wurden, können dann bei uns einfließen und wir können die Maßnahmen für unser Bediengebiet anpassen. Das heißt nicht, dass wir in dem Bediengebiet für ahoi nicht ausgiebig testen. Es gibt jedoch genauso Themen, die vom Bediengebiet unabhängig oder sehr ähnlich sind. Hier können Vorgänge übernommen werden und müssen dann nur noch im ahoi Bediengebiet validiert werden. Genauso können wir unsere Erkenntnisse beispielsweise bei einer Erweiterung des Bediengebietes nutzen, um hier schneller in den Realbetrieb übergehen zu können.
Rico Auerswald: Wenn wir verstehen, unter welchen Bedingungen Störungen entstehen, also was die konkreten Störungsauslöser waren, können wir diese Erkenntnisse auf andere bzw. neue Bediengebiete übertragen. Wichtig ist dabei, dass wir in ähnlichem Umfang Wissen über die Bedingungen in den neuen Bediengebieten haben, wie sie für die bestehenden Betriebsbereiche vorliegen. Dann können wir über Vergleichsverfahren Abschätzungen über das Auftreten, ggf. auch über deren Häufigkeit, von Störungen aus dem bestehenden Wissen für die neuen Gebiete ableiten.
Vielen Dank für die spannenden Einblicke in die Arbeit der Arbeitsgruppe Leitstelle im Projekt ahoi.