Christian Thoss und Konrad Polster vor einem autonomen Fahrzeug des Unternehmens Nuro.

Autonomes Fahren zum Anfassen – Eindrücke einer Studienreise in die USA

ahoi Projekt News | 25.09.2025

Wer das autonome Fahren hautnah erleben will, kommt an den USA nicht vorbei. Denn hier werden autonome Fahrzeuge bereits im realen Straßenverkehr getestet. Ein kleines Team von vhh.mobility hat sich Anfang des Jahres im Rahmen einer Studienreise des VDV (Verband Deutscher Verkehrsunternehmen) zum Thema Autonomes Fahren auf den Weg nach Kalifornien gemacht. Das Ziel war es, das Wissen im Bereich autonomes Fahren auszubauen, Expert*innen und Hersteller autonomer Mobilitätslösungen zu treffen und Lösungen und Einsatzszenarien autonomer Technik zu erleben, die in den USA bereits Realität sind. Mit dabei war auch Konrad Polster (Teilprojektleiter Fahrzeugtechnik im Projekt ahoi). Im Interview hat er mit uns über seine wichtigsten Eindrücke der Reise gesprochen.

Konrad Polster im Interview

Was waren Ihre wichtigsten Eindrücke zum Stand des autonomen Fahrens in den USA?
Konrad Polster: Autonomes Fahren hat sich in den USA insbesondere in komplexen und urbanen Umgebungen als technisch realisierbar erwiesen und wird gesellschaftlich zunehmend akzeptiert. Zahlreiche Technologieunternehmen streben danach, in diesem zukunftsweisenden Bereich Fuß zu fassen, aber nur wenigen gelingt es aktuell, die hohen technischen Hürden erfolgreich zu überwinden.

Der Anbieter Waymo nimmt hierbei eine führende Rolle ein und gilt derzeit als technologischer Vorreiter im Bereich des autonomen Fahrens. In den USA liegt der Fokus weiterhin auf der Entwicklung und dem Betrieb von „Robotaxis“. Der öffentliche Personennahverkehr spielt bislang eine untergeordnete Rolle. Ein zentrales Ziel der Anbieter bleibt die Skalierung ihrer Systeme auf große Flotten mit mehr als 1.000 Fahrzeugen, um die Wirtschaftlichkeit und Reichweite autonomer Mobilitätsdienste nachhaltig zu steigern.

Autonomes Fahrzeug des Unternehmens Waymo auf den Straßen von San Francisco.

Autonomes Fahrzeug des Unternehmens Waymo auf den Straßen von San Francisco.

Warum US-Unternehmen schneller Erfahrungen mit autonomen Fahrzeugen sammeln

Warum geht es in den USA mit dem autonomen Fahren so viel schneller voran als in Deutschland? Wo liegen hier die Herausforderungen?
Konrad Polster: Ein wesentlicher Unterschied zwischen den USA und Europa, speziell Deutschland, besteht in der regulatorischen Herangehensweise an das autonome Fahren. In den USA, mit Kalifornien als Vorreiter, können Unternehmen über eine Selbstzertifizierung die Genehmigung zum Testen autonomer Fahrzeuge erhalten. Das bedeutet, dass die Hersteller selbst dafür verantwortlich sind zu entscheiden, wann ihre Technologie sicher genug ist, um im öffentlichen Straßenverkehr erprobt zu werden.

Im Gegensatz dazu ist das Genehmigungsverfahren in Europa und speziell in Deutschland streng zulassungsbasiert. Hersteller müssen gegenüber einer zuständigen Behörde, in Deutschland dem Kraftfahrt-Bundesamt (KBA), nachweisen, dass ihre Systeme funktional sicher und gesetzeskonform sind. Erst nach erfolgreicher Prüfung wird eine Zulassung erteilt. Diese unterschiedlichen regulatorischen Rahmenbedingungen führen zu deutlich verschiedenen Innovationsgeschwindigkeiten. In den USA profitieren die Unternehmen von einer steileren Lernkurve, da sie frühzeitig in realen Umgebungen testen und wertvolle Erfahrungen sammeln können. Damit einher gehen jedoch eine höhere Produkthaftung und ein erhöhtes unternehmerisches Risiko.

In Deutschland gibt es langwierige Zulassungsprozesse, wo aktuell noch keine Freigabe für Systeme auf Level 4 erfolgt ist. Dies ist eine zentrale Herausforderung. Nicht aufgrund technologischer Rückstände, sondern aufgrund fehlender praktischer Erprobung. Technologisch befinden sich deutsche und europäische Unternehmen auf einem vergleichbaren Niveau wie die internationalen Wettbewerber. Entscheidend ist nun, dass wir die Systeme auf die Straße bringen, denn jeder gefahrene autonome Kilometer bedeutet gewonnene Erkenntnisse, die zur Weiterentwicklung beitragen. In den USA werden derzeit Millionen von Kilometern mit autonomen Fahrzeugen zurückgelegt – ein entscheidender Vorteil für die Reife und Leistungsfähigkeit der dort eingesetzten Systeme.

Christian Thoss (Geschäftsführer vhh.forward), Dr. Lorenz Kasch (Geschäftsführer vhh.mobility), Konrad Polster (Projektmanager Digitalisierung vhh.mobility), Andreas Bahr (Geschäftsführer vhh.forward), Fabian Zimmer (Projektmanager Digitalisierung vhh.mobility) bei einem Besuch des Unternehmens Vay.

v. l. n. r.: Christian Thoss (Geschäftsführer vhh.forward), Dr. Lorenz Kasch (Geschäftsführer vhh.mobility), Konrad Polster (Projektmanager Digitalisierung vhh.mobility), Andreas Bahr (Geschäftsführer vhh.forward), Fabian Zimmer (Projektmanager Digitalisierung vhh.mobility) bei einem Besuch des Unternehmens Vay.

Von Robotaxis bis Fernsteuerung – Eindrücke aus Kalifornien

Welche Unternehmen oder Projekte haben Sie in den USA besucht, und was hat Sie dabei besonders beeindruckt?
Konrad Polster: Im Rahmen unserer Recherche haben wir die größten Anbieter im Bereich des autonomen Fahrens analysiert, insbesondere die mit den meisten bislang zurückgelegten autonomen Testkilometern. Unser Besuch umfasste Unternehmen wie Pony.ai, May Mobility, Nuro, Imagry sowie die Contra Costa Transportation Authority, eine Organisation, die mehrere regionale Verkehrsbetriebe vereint und sich aktiv für neue Mobilitätslösungen einsetzt.

Besonders eindrucksvoll war der Besuch eines großen Testgeländes für autonome Fahrzeuge, auf dem wir einen umfassenden Einblick in die vielfältigen Testmöglichkeiten und die technischen Anforderungen an Hersteller erhalten haben. Obwohl ein direkter Besuch bei Waymo nicht möglich war, konnten wir die Fahrzeuge im Realbetrieb ausgiebig testen. Die Fahrt mit einem vollständig autonomen Robotaxi in San Francisco war eines der eindrucksvollsten Erlebnisse. Die Fahrzeuge bewegen sich vollkommen selbstverständlich durch den dichten Stadtverkehr ohne eine einzige kritische Situation. Selbst eine bewusst provozierte Blockierung, bei der wir beim Aussteigen direkt vor dem Fahrzeug stehen blieben, wurde souverän gelöst: Das Fahrzeug wendete autonom und setzte seine Fahrt problemlos fort.

Auch andere Anbieter haben bemerkenswerte Fortschritte gezeigt. Es ist absehbar, dass schon bald weitere Unternehmen in Kalifornien fahrerlose Fahrzeuge ohne Sicherheitsfahrer im öffentlichen Raum einsetzen werden. Besonders bei Nuro war ein interessantes Feature zu beobachten: Eine integrierte künstliche Intelligenz informierte per Sprachausgabe über das aktuelle Fahrverhalten und die Entscheidungsgrundlage des Fahrzeugs. Ein Beispiel: „Ich fahre in der mittleren Spur und bremse, weil das Fahrzeug vor mir langsamer wird und die Ampel rot zeigt.“ Solche Systeme erhöhen nicht nur die Transparenz, sondern auch das Vertrauen in die Technologie.

Ein weiterer spannender Besuch war der bei dem Unternehmen Vay, das sich nicht auf autonomes, sondern auf ferngesteuertes Fahren spezialisiert hat. Vay bietet einen Carsharing-Dienst an, bei dem ferngesteuerte Fahrzeuge zum Kunden gebracht und nach der Nutzung wieder ferngesteuert abgeholt werden. Beeindruckend war hier besonders die hohe Zuverlässigkeit des Dienstes sowie die schnelle Skalierung: Innerhalb eines Jahres wurde eine Flotte von 40 Fahrzeugen erfolgreich aufgebaut und in Betrieb genommen.

Diese Eindrücke zeigen, wie dynamisch sich das autonome und ferngesteuerte Fahren in den USA, insbesondere in Kalifornien, entwickelt und welche technologischen Reifegrade bereits erreicht wurden.

Ein Arbeitsplatz für das teleoperierte Fahren beim Unternehmen Vay.

Ein Arbeitsplatz für das ferngesteuerte Fahren beim Unternehmen Vay.

Chancen für den Betrieb autonomer Systeme

Wie unterscheidet sich der gesellschaftliche Umgang mit autonomen Fahrzeugen in den USA im Vergleich zu Deutschland?
Konrad Polster: Diese Frage lässt sich nicht eindeutig beantworten, allerdings denke ich, dass es keinen grundlegenden Unterschied gibt. Sowohl in den USA als auch in Deutschland gibt es sowohl Befürworter als auch Skeptiker gegenüber dem autonomen Fahren. In San Francisco ist deutlich spürbar, dass autonome Fahrzeuge bereits vollständig in das Verkehrsgeschehen integriert und von der Bevölkerung akzeptiert sind. Sie bewegen sich wie selbstverständlich im Straßenverkehr und ziehen kaum noch besondere Aufmerksamkeit auf sich. In Deutschland sind wir in dieser Hinsicht noch nicht so weit, das Interesse an der Technologie ist aber deutlich vorhanden. Ich bin überzeugt, dass auch hierzulande eine breite Akzeptanz entstehen wird, sobald autonome Fahrzeuge regelmäßig auf den Straßen sichtbar werden.

Was nehmen Sie aus Ihrer Reise für das Projekt ahoi und zukünftige Projekte von vhh.mobility mit?
Konrad Polster: Für den erfolgreichen Aufbau eines autonomen Verkehrs bleibt es weiterhin essenziell, sämtliche relevante Funktionen und Prozesse systematisch zu entwickeln und zu etablieren. Nur so kann ein sicherer und effizienter Betrieb gewährleistet werden. Dabei zeigt sich, dass es bereits heute eine Vielzahl potenzieller Anbieter für autonome Technologien gibt und diese Auswahl wird in den kommenden Jahren weiter wachsen. Der technologische Fortschritt ist nicht an einzelne Akteure gebunden, was eine flexible und diversifizierte Beschaffung ermöglicht.

Unser strategischer Fokus sollte deshalb weiterhin auf dem Betrieb autonomer Systeme liegen. Denn die meisten Technologieunternehmen verfolgen nicht das Ziel, selbst als Betreiber aufzutreten. Hier liegt eine zentrale Rolle für Mobilitätsdienstleister und öffentliche Akteure, die das technologische Potenzial in praxistaugliche Anwendungen überführen können.

Vielen Dank für die spannenden Eindrücke zum autonomen Fahren in Kalifornien.

Titelbild: Christian Thoss und Konrad Polster vor einem autonomen Fahrzeug des Unternehmens Nuro.

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